Deutschlandfunk Kultur | Radiokunst
Ursendung
2. Oktober 2020 | 0:05 Uhr
Ursendung | de-symphonic | Klanglandschaft nach Ludwig van Beethoven und Marion Poschmann
Von Werner Cee
Mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Dirigenten: Vladimir Jurowski und Ralf Sochaczewsky
Stimme: Lilith Stangenberg
Ton: Johanna Vollus, Peter Avar und Martin Eichberg
Produktion: Deutschlandfunk Kultur/BTHVN2020/Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin/Hans-Flesch-Gesellschaft 2020
Länge: 48'28
Mehr Infos: — [ext. Link]
Sendung: de-symphonic
Beethovens „Pastorale“ als Klanglandschaft
Innenansicht der „Pastorale“: Der Klangkünstler Werner Cee bricht die sinfonische und zeitliche Struktur von Beethovens 6. Sinfonie auf. Dafür mikrofonierte er das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin als wäre es eine Klanglandschaft. Beethovens „Pastorale“ entstand kurz vor Beginn der Industrialisierung. In der Folge erlebte das Verhältnis des Menschen zur Natur einen radikalen Umbruch. Zum 250. Geburtstag des Komponisten kehrt der Radiokünstler Werner Cee die Perspektive um. Er mikrofoniert die Orchestermaschinerie wie ein Stück Natur: Mit mehr als 50 Mikrofonen wurden hunderte von Takes aufgenommen. So lassen sich Instrumente, musikalische Motive und Stimmen, kleinste Nuancen hervorheben und isolieren. Perspektiven verschieben sich, es entfaltet sich eine Klanglandschaft zwischen romantischen Orchesterklängen, Field Recordings und Musique Concrète.
Neben der radiophonen Komposition entsteht im Rahmen von „de-symphonic“ eine großflächig angelegte Open Air-Klanginszenierung von Werner Cee, die vom 11. bis 13. September im Landschaftspark Duisburg-Nord zu hören ist. Im Zentrum der 180 Hektar großen Wildwuchsfläche steht das stillgelegte ehemalige Thyssen-Hüttenwerk Duisburg-Meiderich, in dem von 1901 bis 1985 Roheisen für die Stahlindustrie produziert wurde.
Werner Cee über de-symphonic | A symphonic soundscape
Beethovens 6. Sinfonie zeichnet das virtuos komponierte Bild einer Landpartie. Der Städter reist in die auf den ersten Blick trivial wirkende Idylle, verbringt ein heiteres Wochenende – ein Traum von ungebrochener Landidylle, von Klarheit, pastoraler Einfachheit in der Natur, der unter Stadtbewohnern bis heute häufig anzutreffen ist.
Schon bei der Premiere der Sinfonie am 22. Dezember 1808 in Wien kam es zum Eklat. In einem bitterkalten Konzertsaal wurde sie von einem miserabel vorbereiteten Orchester gleichzeitig mit der 5. , der „Schicksalssinfonie“, der Öffentlichkeit präsentiert. Über dieser Aufführung schien bereits eine Vorahnung der anstehenden Industrialisierung mit ihren schwerwiegenden Folgen für die „Naturidylle“ zu schweben.
de-symphonic macht einen Zeitsprung: Beethoven, so stelle man sich vor, bricht zu einem Landausflug auf – doch was findet er? Die Idylle ist zerbrochen – zu finden sind nur noch Fragmente, Erinnerungsfetzen, Ruinen, deren ursprüngliche Funktion gerade noch zu erkennen ist.
Doch diese Fragmente entwickeln mit einem Mal ein Eigenleben …
Mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin haben wir eine spezielle Version der Pastorale aufgenommen: Zusätzlich zur herkömmlichen Mikrofonierung befanden sich Mikrofone sehr dicht an den Instrumenten, waren teilweise direkt am jeweiligen Korpus befestigt. Daraus ergab sich eine riesige Materialsammlung mit mehr als hundert Audiospuren und über tausend Einzelaufnahmen – eine Innenansicht der Pastorale, ein direkter Einblick in den Klangkörper Sinfonieorchester.
de-symphonic entwickelt aus dieser Klangsammlung im Studio eine neue Komposition. Aus den Ruinen der Pastorale entsteht ein akustisches Panorama, eine Klanglandschaft. Die Klänge verlassen den Garten, die Einfriedung der Ursprungskomposition und verwildern. Sie entwickeln ein Eigenleben, gehen neue Verbindungen ein, mutieren, pflanzen sich fort, werden überwuchert … Was aber auf den ersten Blick unwegsam, zufällig verschlungen wirkt, folgt eigenen Gesetzen. Aus den Klängen von Beethovens Landschaftsschilderung entsteht eine neue Landschaft – eine Wildnis.
Dieses Soundscape konkretisiert sich bei der Klanginstallation im Landschaftspark Duisburg Nord Die monumentale Industrieruine, ein stillgelegtes Eisenhüttenwerk mit seinen nutzlos gewordenen Hochöfen, Gießwerken, Gleisanlagen, Materialbunkern, Klärwerken verbindet sich mit den Bruchstücken aus Beethovens Idylle zu einem Gesamteindruck.
In diesem Kontext erscheint die Szenerie wie eine Allegorie der Zeit zwischen Beginn und Ende der Industrialisierung im ausgehenden 20. Jahrhundert, eine romantische Ikone.
In der radiophonen Fassung für Deutschlandfunk Kultur liefern Gedichte und Auszüge von Prosatexten der Autorin Marion Poschmann diesen Kontext. Auch hier treffen Idyllen, Ruinen, geschundene Landschaften auf einen Nachhall von Natur, die Melancholie des romantischen Wanderers. Lilith Stangenberg interpretiert die hochartifizielle Sprache, lässt virtuos komplexe Bilder und Imaginationen entstehen und verwehen, bringt die Leichtigkeit von Beethovens Komposition in die Ruinen zurück.